Eine «sehr bedenkliche» Machtkonzentration in Chiracs Hand

Basler Zeitung 18.06.2002

Am Ende eines Wahlmarathons steht Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac als überragender Sieger da. Wie wird sich die bürgerliche Vormacht auf die Politik auswirken? Wie erklärt sich die schwere Niederlage der linken Kräfte? Und: Was sind die Folgen des europaweiten Trends nach rechts? Antworten des Pariser Politologen Alfred Grosser.

Am 21. April erzielte Jacques Chirac mit weniger als 20 Prozent ein sehr schlechtes Ergebnis. Acht Wochen später erhält er als brillant wieder gewählter Präsident eine komfortable Mehrheit im Parlament. Wie interpretieren Sie die widersprüchlichen Ergebnisse des Wahlmarathons?

Alfred Grosser: Bei der Präsidentschaftswahl haben sich die Stimmen im ersten Wahlgang stark aufgesplittert. 0,35 Prozent fehlten dem damaligen Premierminister Lionel Jospin, um in die zweite Runde zu kommen. Chirac schnitt tatsächlich mit etwa 19 Prozent schlechter ab als je ein anderer Präsident. Doch dann profitierte er davon, dass die ganze Linke in der zweiten Wahlrunde am 5. Mai in republikanischer Treue für ihn stimmte, und so erreichte er 80 Prozent. Die Mehrheit jener, die jetzt am Sonntag noch gewählt haben, wollte keine Kohabitation mehr, sondern klare Verhältnisse. Das Paradoxe am ganzen Wahlprozess ist, dass Chirac noch nie so machtlos war wie vor der Präsidentschaftswahl – und jetzt mehr Macht hat denn je.

Ist diese Machtkonzentration in den Händen Chiracs nicht bedenklich?

Doch, ich halte sie für sehr bedenklich. Vor allen Dingen, weil der Präsident bis jetzt mit keinem Satz angedeutet hat, dass er etwas für all jene tun möchte, die nur deshalb für ihn gestimmt haben, um Le Pen zu vermeiden. Chirac betrachtet sich anscheinend als der Präsident der Rechten.

Sehen Sie Parallelen zu 1995, als der frisch gewählte Präsident Chirac ebenfalls über eine parlamentarische Mehrheit verfügte, dem Volk viel versprach, wenig später mit Massenstreiks konfrontiert wurde und 1997 die Parlamentswahlen verlor?

Aus dem Fiasko der Parlamentsauflösung von 1997 hat Chirac vermutlich gelernt. Aber dass soziale Unruhen kommen werden, scheint mir ganz klar. In den letzten Wochen hat Chirac nur jenen Zugeständnisse gemacht, denen es eigentlich gut geht, den Ärzten zum Beispiel, die bekommen haben, was sie wollten. Anderen Gesellschaftsgruppen wird gesagt werden: «Man kann euch nichts geben, weil nicht genug vorhanden ist.» Am Sonntagabend wollte ein Vertreter von Chiracs neuer Mehrheit, Gesundheitsminister Mattei, nicht sagen, wie die den Ärzten zugestandenen Gelder finanziert werden – ob es ein noch grösseres Haushaltsdefizit geben wird, was in der EU verboten ist.

Chirac hat auch Steuergeschenke angekündigt, was den finanziellen Spielraum noch kleiner macht.

Das ist richtig. Zudem werden die Steuergeschenke nicht sehr sozial verteilt. Sie sind linear, je höher die Einkommenssteuer, desto grösser das Geschenk. Und wer keine Steuern bezahlt, weil das Einkommen zu gering ist, bekommt gar nichts.

Sehen Sie auch aussenpolitische Akzentverschiebungen?

Darauf warte ich mit Spannung. Ein positiver Aspekt dieser Wahlen ist die Zertrümmerung der nationalistischen so genannten Souveränisten: Chevènement ist abgewählt worden, Pasqua ist gar nicht erst angetreten. Die extreme Rechte hat nicht so viele Stimmen erhalten, weil sie antieuropäisch war, sondern weil sie gegen das politische Establishment antrat. Europa hat da keine allzu grosse Rolle mehr gespielt. Deshalb könnten jetzt der Präsident, sein Premierminister und der Aussenminister eine positive Europapolitik machen. Ob sie es tun werden, ist eine andere Frage. Nichts deutet bisher darauf hin. Während des ganzen Wahlkampfs hätte man denken können, dass es keine Europäische Union gibt. Auch im deutschen Wahlkampf ist es diesbezüglich nicht viel besser. Man bekommt den Eindruck, beide Länder seien noch unabhängig und souverän, was ja überhaupt nicht mehr der Fall ist.

Wie erklären Sie sich die harte Abstrafung der Linken durch die Wähler? So schlecht hat sie doch unter Premierminister Jospin nicht regiert.

Nein, im Gegenteil. Kaum eine andere Regierung hat so viele positive Reformgesetze durchgebracht. Aber sie war völlig unfähig, dies zu kommunizieren. Nur ein Beispiel: Ich habe aus der Sportzeitung «L’Equipe» vernommen, dass die kommunistische Ministerin für Sport und Jugend erreicht hat, dass eine Art Steuer von drei Prozent auf dem Reklamegeld für Fussball erhoben wird, um den kleinen Amateurklubs Ressourcen zu verschaffen. Das ist eine sehr soziale Massnahme. Hätte ich das nicht zufällig gelesen, hätte ich nichts davon erfahren. Auch für die Frauen ist viel getan worden, die Gleichberechtigung der Frau in der Ehe ist durch eine ganze Reihe von Gesetzen gestärkt worden. Aber im ganzen Wahlkampf war von diesen Neuerungen keine Rede. Die Regierung Jospin hat gute Arbeitsehr schlecht verkauft. Und das Schlimmste war, dass Jospin im Wahlkampf zum Thema innere Sicherheit sagte, er sei «naiv» gewesen. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für seine Gegner.

In mehreren Ländern Europas befindet sich die Linke im Niedergang und wird abgewählt. Jüngste Beispiele sind Italien, Dänemark, Portugal, die Niederlande und jetzt Frankreich. Sehen Sie einen gesamteuropäischen Trend, der auch Deutschland erfasst?

Tatsächlich kann Edmund Stoiber, so wie es jetzt aussieht, Hoffnung haben, Kanzler zu werden. Aber ich sehe ein Paradox: In allen diesen europäischen Ländern, die nach rechts tendieren, herrscht eine grosse Angst vor der Einwanderung, obwohl etwa die Bundesrepublik Deutschland nur durch die Einwanderung demografisch langfristig gerettet werden kann. Dabei können sozialdemokratische Linke und bürgerliche Rechte eigentlich nur ein Ziel haben: Wir müssen eine solidarische Gesellschaft erreichen, in der umverteilt wird zwischen Arm und Reich, und international müssen wir Regelungen finden gegen den ganz freien Kapitalismus, den unkontrollierten wirtschaftlichen Liberalismus, der Skandale wie den um Enron erst möglich macht. Deshalb verwendet auch die Rechte eine sozialdemokratische Sprache. Und deshalb ändert eine Verschiebung nach rechts an den grossen politischen Linien wenig.

Sie meinen, der Inhalt der Politik verändere sich nicht?

Der Inhalt bleibt gleich. Auch die konservativen Regierungen werden mehr und mehr unter dem Druck eines Mittelstandes stehen, der durch den ständigen Absturz der Börse langsam ruiniert wird, nachdem man ihm Jahre lang gesagt hat: «Investiere an der Börse, das wird dir viel einbringen.»

Gleichzeitig gibt es quer durch Europa ein Erstarken rechtspopulistischer Kräfte.

Es gibt Unterschiede. In Deutschland gibt es den Trend nicht, weil man sich der nationalsozialistischen Vergangenheit bewusst ist. Haider gibt es nur, weil man sich in Österreich dessen nicht bewusst ist... In Frankreich hat Jean-Marie Le Pen sehr viele Stimmen bekommen. Er sagt, es sei skandalös, dass rund 20 Prozent der Wähler keine Vertretung im Parlament haben. Das stimmt, wenn man mit Blick auf das Verhältniswahlrechts argumentiert, wie es in der Schweiz, in Deutschland oder in den Niederlanden gilt. Aber Grossbritannien und die USA sind Demokratien, in denen sich das Mehrheitswahlrecht noch viel drastischer auswirkt als in Frankreich. Doch es stimmt, dass sich ein guter Teil der französischen Bevölkerung politisch nicht vertreten fühlt. Das ist beunruhigend.

Mit dem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte wird auch ein stärkeres Aufkommen von Antisemitismus befürchtet. Sehen Sie eine alt-neue Gefahr auf Europa zukommen?

Da schwimme ich klar gegen den Strom. Nehmen Sie einen Mann wie Le Pen: Er ist gewiss Antisemit, aber noch viel mehr ist er antiarabisch, antimuslimisch. Er hat ja auch erklärt, er könne verstehen, dass der israelische Regierungschef Sharon Methoden anwenden müsse, die vielleicht nicht sehr menschlich seien, aber das habe er selber in Algerien auch tun müssen. Leider hat auch ein führendes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich erklärt: «Wenn Le Pen in der Wählergunst steigt, werden sich die Muslime etwas ruhiger verhalten.»

Und noch etwas: Hass gegen den Islam und die Muslime schürt auch das Buch «La rage et l’orgueil» der italienischen Autorin Oriana Fallaci. Nach
einer Millionenauflage in Italien hat das Buch jetzt grossen Erfolg in Frankreich. Es ist eine einzigartige Beschimpfung aller Muslime. Würde ein Buch auch nur halbwegs so Stimmung gegen Juden machen, wäre es sofort Gegenstand einer Klage vor Gericht wegen Aufstachelung zu ethnischem Hass. Die heutigen Verfolgten in unseren Ländern sind in erster Linie die Muslime. Ich sage das als gebürtiger Jude.
Interview Willi Herzig