Reise-Buch Frankfurter Rundschau 17.05.2002 "Rückkehr nach Lemuria": Phantastisches Lemuria"Madagaskar ist das Land, wo die Lebenden für die Toten leben." Dies ist einer der irritierenden Schlüsselsätze zu den Reportagen über ein Land, das phantasievolle Geschichtsschreiber dem Fabelkontinent Lemuria zurechnen. Er soll von Madagaskar bis Malaysia gereicht haben, aber schon vor Atlantis versunken sein. Wie es der Buchtitel ankündigt, begibt sich der Leser in dieses phantastische Reich, nicht auf eine Touristeninsel. Denn Madagaskar, der sechste Kontinent, eignet sich weder zum Vergleich mit unserem Zeit- und Schicksalsbegriff noch zum Ausstieg aus unserer Zivilisation in eine vermeintlich ursprungshaftere und glücklichere. Mit solchen Klischees bricht der Autor Michael Stührenberg von vornherein. Er spiegelt die Eigenart der Großinsel mit feiner erzählerischer Poesie durch die Lebensgeschichten der Angehörigen verschiedener Stämme und ihre merkwürdigen Brauchtümer. Anfangs liest sich das wie die Fahrt in einen Höllengrund, die Lebenden geflochten auf das Rad eines Ahnenkults, der ihnen die Toten immer gegenwärtig bleiben lässt. Sei es während einer Flussfahrt, wenn ein im Fels verborgener Einbaum gefüllt mit Gebeinen besucht werden muss, sei es die lebenslange Pflicht, die Toten unter ruinösem Geldeinsatz zu feiern und umzubetten. Der Autor nimmt seine Leser mit zu Menschen, die den Sinn ihres Daseins mit höchst irrationalen Vorstellungen verbinden, etwa zum Stamm der Antandroy im wüstenkargen Süden, dessen Mitglieder sich als Dornenmenschen bezeichnen. Die Reise endet in der ebenso triumphalen wie melancholischen Geschichte eines südlichen Fischerdorfes, dessen Bürgermeister sich darauf spezialisiert hat, "den Fortschritt zu verdünnen", wann immer ihn die Weißen seinem Volk angedeihen lassen wollen. Stührenberg als erfahrener Grenzgänger zwischen den Kulturen erliegt dabei nicht dem Phantastischen. Er vermittelt mit berückenden Sprachbildern und zutiefst klugen Einsichten in jene in Flora, Fauna und Kultur so einzigartig und einsam gebliebene Welt. "Bilder voller Wehmut" drängen sich ihm auf. "Als müsste sich das Herz an Dinge erinnern, die das Auge nie gesehen hat". Das ist der große Spannungsbogen dieses kleinen Lesebuchs. Und wer diese verdrehte, zuweilen wahnsinnige Wahrnehmung vom Leben ertragen kann, wird das geheimnisumwobene Lemuria in einem Abend lesend durchqueren. jur Rückkehr nach Lemuria, Reisen auf Madagaskar, von Michael Stührenberg, Picus Reportagen, Picus Verlag, Wien 2001, 168 Seiten, 15,24 Euro |