"Nach Sangatte oder sterben!"

Lage der Kirchen-Flüchtlinge in Frankreich eskaliert - Paris stellt Ultimatum zur Räumung

Die Welt 14.11.2002

Von Jochen Hehn

Paris - Die Flüchtlingskrise am französischen Ärmelkanal spitzt sich dramatisch zu. Nachdem am Dienstag Innenminister Nicolas Sarkozy binnen 24 Stunden die Räumung der von rund 100 Flüchtlingen besetzten Kirche Saint-Pierre Saint-Paul in Calais angekündigt hatte, drohten die Flüchtlinge bei Ablauf des Ultimatums damit, sich notfalls gegen die Räumung durch Polizeikräfte zur Wehr zu setzen. "Wir wollen nach Großbritannien oder sterben" und "Wir wollen nach Sangatte oder sterben", hatten sie auf Pappkartons geschrieben.

Auf 3000 bis 4000 schätzt das französische Rote Kreuz die Zahl der Flüchtlinge aus dem Irak, aus Afghanistan, dem Sudan und aus Somalia, die seit Tagen in Nordfrankreich auf den Straßen umherirren. Die meisten sind ohne Unterkunft, viele von ihnen krank, seitdem vor einer Woche die französische Regierung das Rotkreuzlager Sangatte in der Nähe des Eurotunnels unter dem Ärmelkanal für neu ankommende Flüchtlinge hat schließen lassen.

Paris erfüllte damit eine Forderung der britischen Regierung. Zum wachsenden Ärger Londons hatten nämlich die Flüchtlinge Sangatte jahrelang als Basis dafür genutzt, um sich in abenteuerlichen, ja lebensgefährlichen Fluchtversuchen ins vermeintlich "gelobte Land" nach Großbritannien abzusetzen.

Vor wenigen Tagen hat auch die britische Regierung ihre von Paris als "lax" kritisierte Asylpolitik deutlich verschärft. Damit verbinden London und Paris die Hoffnung, Sangatte und der Eurotunnel würden für die Flüchtlinge aus aller Welt nachhaltig an Anziehungskraft verlieren. Spätestens Ende April 2003 soll Sangatte dann endgültig als Flüchtlingslager ausgedient haben.

Doch die meisten der neu ankommenden Flüchtlinge sind völlig ahnungslos, dass sich die Situation so entscheidend zu ihrem Nachteil verändert hat. Für die französische Regierung ist es jetzt ein Wettlauf mit der Zeit, den Flüchtlingsstrom ein für alle Mal zu unterbinden. In der Kirchenbesetzung von Calais sieht sie das Werk internationaler Schlepperbanden, die ein neues Sangatte schaffen wollen, um ihren Menschenhandel weiter betreiben zu können - ein sehr lukratives Geschäft, denn pro Passage müssen zwischen 400 und 600 Euro Kopfgeld bezahlt werden.

Innenminister Sarkozy will deshalb die Kirche möglichst schnell räumen lassen und die Flüchtlinge auf Asylantenheime in ganz Frankreich verteilen. "Niemand ist dazu verurteilt, durch die Straßen zu irren", versichert er. "In Frankreich gibt es genügend Unterkünfte für Asylbewerber." Dort würden die Flüchtlinge dann über ihr Recht auf Asyl informiert.

Doch die Flüchtlinge in der Kirche von Calais schenken den Versicherungen des Innenministers keinen Glauben. "Wir wollen kein Asyl in Frankreich beantragen", erklärte ein Sprecher mit dem Hinweis darauf, dass einige von ihnen schon vor fünf Jahren einen Asylantrag in Frankreich gestellt hätten - doch ohne Erfolg. Großbritannien bleibe deshalb für alle das einzige Ziel.

In der gestrigen Sitzung des Ministerrats hat die französische Regierung jedoch ihre Entschlossenheit bekräftigt, das Flüchtlingsproblem von Calais zu lösen. Mit einer einzigen Wasserstelle und Toilette sei dort zudem die sanitäre Situation unhaltbar geworden. Innenminister Sarkozy machte unterdessen deutlich, dass die Region am Ärmelkanal nicht "das Sammelbecken für alle Armen der Welt" sein könne. Vor ein paar Jahren schon hatte dies der sozialistische Premierminister Michel Rocard ganz ähnlich formuliert. Frankreich sei zwar das "Land der Menschenrechte", sagte er. Doch könne es deshalb nicht "das ganze Elend dieser Welt bei sich aufnehmen".

Harte Kritik übte unterdessen der Präsident des französischen Roten Kreuzes, Marc Gentilini, an "gewissen Vereinigungen", die sich der Flüchtlinge "bedienen" und sie zum Verbleiben in der Kirche auffordern. Wenn man den Armen mit karitativer Arbeit helfen wolle, sagte Gentilini, dann sollte man sie nicht zu Provokationen anstiften. Die vor allem von den französischen Linksparteien als "überstürzt" kritisierte Schließung von Sangatte respektiere die Prinzipien der Menschenrechte, fügte er hinzu. Denn jetzt würde den Flüchtlingen doch die Möglichkeit gegeben, für ein politisches Asyl in Frankreich zu kämpfen.